Unbewusstes Erleben beeinflusst bewusstes Verhalten
Unsere bewussten Entscheidungen werden nicht nur von bewusst erlebten und abgespeicherten Situationen beeinflusst, sondern auch von unbewussten. Und: diese unbewussten Abläufe finden im bewussten Gedächtnissystem statt, wie Berner Psychologinnen und Psychologen herausgefunden haben.
Forschende des Centers for Learning, Memory and Cognition (CCLM) der Universität Bern konnten zeigen, dass unbewusst erlebte Situationen auch unbewusst analysiert, miteinander verglichen und abgespeichert werden – genauso wie dies von bewusst erlebten Situationen bekannt ist. Dieses unbewusst erworbene Wissen kann später in ähnlichen, aber bewusst erlebten Situationen wieder hervorgeholt werden und beeinflusst das bewusste Entscheidungsverhalten ebenso wie bewusstes Wissen.
Diese Erkenntnis ist neu, denn bisher galten solche Gedächtnisleistungen als dem Bewusstsein und dem damit verbundenen bewussten Gedächtnissystem – dem Hippokampus – vorbehalten. Die Berner Forschenden zeigten nun, dass der Hippokampus dieselben Leistungen auch ohne Bewusstsein hervorbringen kann. Die Studie wurde im «Journal of Neuroscience» veröffentlicht.
Unbewusste Vorgänge haben ähnliche Wirkung wie bewusste
Das bewusste Gedächtnissystem, der Hippokampus, ist eine Hirnstruktur und sitzt beidseits tief im Gehirn unterhalb des Schläfenbereichs. Er ermöglicht komplexes Lernen und Erinnern: Je nach Bedürfnis können eine Situation oder kombinierte Situationen erinnert werden und unser Verhalten beeinflussen.
Thomas Reber und Katharina Henke vom Center for Cognition, Learning and Memory (CCLM) nutzten nun zusammen mit Forschern der Universität und ETH Zürich folgendes Lernprinzip für ein Gedächtnis-Experiment: Wir sehen unseren jungen Nachbarn in einem neuen Sportwagen vorbeirauschen (Situation 1). Später sehen wir einen uns unbekannten älteren Herrn am Steuer desselben Sportwagens sitzen (Situation 2). Über unser Gedächtnis können wir diese beiden Situationen miteinander kombinieren und daraus Schlüsse ziehen – zum Beispiel, dass unser Nachbar den älteren Herrn kennt und den Sportwagen von ihm geliehen hat. Deswegen reagieren wir nicht überrascht, wenn wir unseren Nachbarn am nächsten Tag neben dem älteren Herrn im Kino antreffen (Situation 3).
Unser Verhalten beim Anblick der beiden Männer im Kino wurde also beeinflusst durch die kombinierten Erinnerungen an Situationen 1 und 2. Dabei stammte unser Wissen von keiner der beiden Situationen 1 und 2 alleine, sondern erst aus unserer mentalen Verknüpfung und Interpretation beider Situationen. So wirken normalerweise bewusst erinnerte Situationen auf unser bewusstes Verhalten.
Nun kann das Ganze auch unbewusst ablaufen – aber dennoch unser bewusstes Verhalten beeinflussen. Dafür zeigten die Forschenden den Versuchspersonen die Situationen 1 und 2 nur unterschwellig – das heisst mit der Dauer von einigen Tausendstel einer Sekunde. Dadurch konnten die Versuchspersonen die Situationen 1 und 2 nur unbewusst erfassen. Situation 3, die Testsituation, wurde hingegen normal lange gezeigt und verlangte von den Versuchspersonen eine bewusste Entscheidung. Diese Entscheidung wurde durch die jetzt aktivierten unbewussten Erinnerungen an die Situationen 1 und 2 beeinflusst.
Mittels Magnetresonanztomographie konnten die Forschenden zeigen, dass das bewusste Gedächtnissystem auch dann aktiv war, als die Erinnerungen unbewusst verknüpft und abgerufen wurden. «Dies belegt, dass der Hippokampus auch unabhängig von Bewusstsein funktioniert», sagt Katharina Henke. «Diese Ergebnisse erweitern die gängigen Gedächtnistheorien und relativieren die Bedeutung des Bewusstseins beim Lernen», meint Thomas Reber.
Dem Gedächtnis und dem Lernen auf der Spur
Das neue strategische Forschungszentrum Center for Cognition, Learning and Memory (CCLM) der Universität Bern bildet den Kern eines innovativen, interdisziplinären Forschungsverbunds. Ziel des Zentrums ist es, die Forschung zum Lernen und Gedächtnis zu fördern und das wissenschaftliche Profil der Universität Bern zu schärfen. Das CCLM bietet auch Dienstleistungen in Form von Beratung oder Interventionen an.
Quellenangabe:
Thomas P. Reber, Roger Luechinger, Peter Boesiger, Katharina Henke: Unconscious Relational Inference Recruits the Hippocampus, Journal of Neuroscience, 2. Mai 2012, doi:10.1523/JNEUROSCI.5639-11.2012
04.05.2012