Media Relations

Von der viersprachigen zur vielsprachigen Schweiz

In der Schweiz ist der Umgang mit der Mehrsprachigkeit flexibel und pragmatisch. Sie funktioniert gut. Die Migration und die zunehmende internationale Verflechtung stellen jedoch Schule, Wirtschaft und Verwaltung vor neue Herausforderungen. Wenn man das Potential der Vielsprachigkeit ausschöpft, ist sie von allgemeinem Nutzen. Zu diesem Schluss kommt das Nationale Forschungsprogramm «Sprachenvielfalt und Sprachkompetenz in der Schweiz» (NFP 56), an dem auch die Universität Bern beteiligt war.

Die kleine Schweiz weist einen grossen Sprachenreichtum auf. Hier werden vier von der Verfassung anerkannte Landessprachen (Deutsch, Französisch, Italienisch, Rätoromanisch), drei Amtssprachen (die genannten ausser Rätoromanisch) sowie zahlreiche weitere Sprachen gesprochen (unter anderen Spanisch, Albanisch, Englisch, Portugiesisch, Türkisch). Wie kommt das Land mit dieser Vielfalt zurecht? Erstaunlich gut, wie das NFP 56 mit seinen 26 Projekten – wovon zwei von Forschenden der Universität Bern durchgeführt worden sind – herausgefunden hat. Freilich sollte man das Potential der Mehrsprachigkeit besser als bisher ausschöpfen.

Wie mehrere Forschungsprojekte belegen, sind Gruppen, deren Angehörige verschiedene Sprachen sprechen (z.B. Fussballteams oder Militäreinheiten), im Umgang mit der Mehrsprachigkeit flexibel und pragmatisch. Sie überbrücken das Fehlen formeller Sprachgebrauchsregelungen oft spontan. Auch in Unternehmen kooperieren verschiedensprachige Menschen im Arbeitsalltag erfolgreich.

Überdurchschnittlich gute Sprachkenntnisse

Die Schweizerinnen und Schweizer verfügen über überdurchschnittlich gute Sprachkompetenzen. Sie beherrschen im Schnitt zwei Fremdsprachen. Den Rätoromanen und Tessinern werden von der Mehrheit grössere sprachliche Anstrengungen zugemutet. Mit didaktisch innovativen, mit dem Mut zur Nicht-Perfektion gestalteten Sprachkursen eröffnen sich neue, pragmatische Wege für das Erlernen von Rätoromanisch und Italienisch.

Die Hauptverantwortung für die Sprachvermittlung trägt die Schule. Die Schülerinnen und Schüler werden vom frühen Erlernen zweier Fremdsprachen nicht überfordert. Die Deutschschweizer sind in der Lage, die Standardsprache – das sogenannte Hochdeutsch – situationsgerecht und auf gutem Niveau zu verwenden, ebenso wie die jungen Romands ihre Jugendsprache und das Standardfranzösisch am richtigen Ort einzusetzen wissen. Englisch wird in seiner Bedeutung oft überschätzt; es spielt in der schweizerischen Bevölkerung nicht die Rolle einer «Lingua franca».

Der Staat sollte mit der gesamten Bevölkerung kommunizieren

Mehrere Ergebnisse des NFP 56 haben Eingang in die Verordnung zum eidgenössischen Sprachengesetz gefunden und prägen den neuen Leitfaden zur Förderung der Mehrsprachigkeit in der Bundesverwaltung. Die Behörden sollten – wie vom neuen Sprachengesetz vorgesehen – griffige Massnahmen zur sprachlichen und fremdsprachlichen Weiterbildung ihres Personals ergreifen. Ferner empfiehlt eine Studie des NFP 56, dass etwa Gesetzestexte, behördliche Anordnungen und Informationen vermehrt von Spezialisten der drei Amtssprachen gemeinsam erarbeitet werden sollen.

Eine zentrale Aufgabe des Sprachenrechts ist die Unterstützung der sprachlichen Minderheiten. Sie sollten möglichst viele ihrer Bedürfnisse in ihrer Sprache befriedigen können. Für die neuen fremdsprachigen Gruppen, deren Sprachen von der Verfassung nicht anerkannt werden, ist die Situation schwieriger. Während Staat und Gesellschaft die einheimischen Minderheiten vor dem Verschwinden in den grösseren Gemeinschaften schützen, erwarten sie unter dem Stichwort Integration von manchen Migrantinnen und Migranten das Gegenteil. Für den Staat muss das Interesse im Vordergrund stehen, mit allen Bewohnern seines Territoriums kommunizieren zu können.

Der Nutzen der Vielsprachigkeit

Vielsprachigkeit kostet – Zeit, Energie, Geld. Aber sie bringe auch kulturellen, intellektuellen und nicht zuletzt wirtschaftlichen Nutzen, sagt Walter Haas, Präsident der Leitungsgruppe des NFP 56. Auch die Sprachen der Migranten gehören zum sprachlichen Kapital der Schweiz, was Politik und Wirtschaft zu wenig bewusst ist. Über die Benutzung dieser Sprachen bleibt die Schweiz mit den Herkunftsländern der Migranten und anderen Kulturen in Kontakt, sie sind hilfreich in der Tourismusbranche und in internationalen Unternehmen oder bei Übersetzungen etwa von literarischen und juristischen Texten. Die Herausforderung der Vielsprachigkeit annehmen heisse, das Potential, das sich aus dem Zusammentreffen verschiedensprachiger Menschen ergebe, zu erkennen und auszuschöpfen, sagt Walter Haas. Wenn man die Sprachfähigkeiten der Menschen besser fördern wolle, müsse man bei ihrem Bedürfnis nach Kommunikation ansetzen: Die Menschen wollten und könnten miteinander sprechen.

Nationales Forschungsprogramm «Sprachenvielfalt und Sprachkompetenz in der Schweiz» (NFP 56)

Die traditionelle Viersprachigkeit der Schweiz ist längst zur Vielsprachigkeit geworden. Diese Vielfalt der Sprachen stellt heute neue Anforderungen an Schule, Politik, Wirtschaft, Gesellschaft – und auch an jedes einzelne Individuum. Das vom Bundesrat in Auftrag gegebene NFP 56, das seine Arbeit im Jahr 2005 aufnahm und über einen Finanzrahmen von acht Millionen Franken verfügte, hat die Grundlagen zur Erhaltung, Förderung und Nutzung der Sprachenvielfalt in der Schweiz erforscht und entwickelt. Rund 200 Forschende arbeiteten in 26 Projekten. Jetzt legt das NFP 56 seine Synthese vor.

Quelle: Medienmitteilung des Schweizerischen Nationalfonds (SNF)

25.11.2010