Dem „unbekannten Gotthelf“ auf der Spur
Die Universität Bern gedenkt des 150. Todesjahres von Jeremias Gotthelf mit zwei grossen Forschungsprojekten: Zum einen sollen die knapp 400 Predigten Gotthelfs erstmals in einer kommentierten Gesamtedition herausgegeben werden. Zum anderen werden alle politischen und pädagogischen Beiträge des einstigen Pfarrers neu publiziert. Die nicht-literarischen Schriften sollen letztlich als mehrbändige historisch-kritische und kommentierte Ausgabe vorliegen. Ausserdem startet anlässlich des Gotthelf-Todesjahres am 27. Oktober 2004 an der Uni Bern eine öffentliche Vortragsreihe zum Thema „Jeremias Gotthelf, der Querdenker und Zeitkritiker“.
Am Institut für Germanistik der Universität Bern sind Professor Dr. Barbara Mahlmann und Professor Dr. Christian von Zimmermann dem „unbekannten Gotthelf“ auf der Spur: Im Rahmen von zwei durch den Nationalfonds geförderten Forschungsprojekten sollen die knapp 400 Predigten sowie die politischen und pädagogischen Beiträge von Jeremias Gotthelf als kommentierte Editionen erstmals beziehungsweise neu herausgegeben werden. Christian von Zimmermann nimmt sich der Predigten und Kalenderschriften an. „Bislang sind weniger als ein Sechstel der knapp 400 Predigten Gotthelfs editiert worden“, erläuterte er an einer Medienkonferenz am 26. Oktober in Bern. Barbara Mahlmann studiert dagegen alle pädagogischen und politischen Schriften des einstigen Pfarrers, in denen er sich etwa für eine Verbesserung der Bildung und für bessere Unterrichtsbedingungen im Kanton Bern engagierte. Sie rückt die Schriften in einen breiteren historischen und politischen Zusammenhang: „Gotthelf wurde bislang zu isoliert wahrgenommen“, stellte sie fest. So hätten damals viele Berner Journalisten einen ähnlich polemisch-satirischen Stil gepflegt wie der wortgewaltige Pfarrer aus Lützelflüh.
Parallel zu den beiden Projekten wird die bisherige Gesamtausgabe von Gotthelfs Werken digitalisiert. Die Finanzierung hat die Erziehungsdirektion des Kantons Bern übernommen. Auf diese Weise können die bisher edierten Texte als Rohtexte für die Editionsprojekte und für Recherchen genutzt werden.
Die heute massgebliche 42-bändige Gotthelf-Gesamtausgabe (1911-1977) berücksichtigt breite Werkabteilungen wie die Predigten oder die politischen Arbeiten nur teilweise. Gerade die Publizistik, die Predigten und die Kalenderschriften stellen besondere Herausforderungen an die Forschung dar. In diesen Texten entpuppt sich Gotthelf bereits Jahre vor dem Bauern-Spiegel (1837) als impulsiv satirischer Zeitkritiker und unerbittlicher Analytiker menschlicher Schwächen. Die bereits publizierten Editionen erfolgten zudem fast alle ohne einen geeigneten Kommentar, der Gotthelfs Texte in seinen vielfältigen regionalhistorischen und diskursiven Bezügen für heutige Leser zugänglich machen würde. Schliesslich konnte auch die notwendige Verzahnung der Werkteile in Kommentaren bislang nicht erreicht werden. Der enge Zusammenhang zwischen Publizistik, Predigtamt, Kalenderarbeit und Erzählwerk bleibt somit unerschlossen.
Die beiden Berner Wissenschaftler wollen nun mit einer mehrbändigen kommentierten Edition des «unbekannten Gotthelf» diese Lücke schliessen. Die Neuedition, welche einerseits auf die bisherige Gesamtausgabe zurückgreift und zudem die bislang vernachlässigten Werkbestandteile beinhaltet, könnte künftig als Basis für eine neue historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke von Jeremias Gotthelf dienen. Die Arbeit an den genannten Editionsbereichen wird frühestens 2008 abgeschlossen sein. „Wir versprechen uns von der kommentierten Edition sämtlicher Predigten, Kalenderschriften, politischer und pädagogischer Schriften ein besseres sozialgeschichtliches Verständnis und eine genauere rhetorisch-stilistische Einschätzung von Gotthelfs Erzählwerk“, blickte Mahlmann in die Zukunft. Weiter soll die kommentierte Edition der nicht-literarischen Schriften als Ergänzung zu bestehenden Ausgaben dienen und Kommentare für den Gymnasialunterricht liefern.
26. Oktober 2004
26.10.2004