Kann das Affenpockenvirus das menschliche Gehirn infizieren?

Eine neue Studie unter der Leitung von Forschenden des Instituts für Virologie und Immunologie (IVI) und der Universität Bern in Zusammenarbeit mit dem Centre hospitalier universitaire vaudois (CHUV) und dem Bundeslabor Spiez zeigt, dass sich das Affenpockenvirus (MPXV) in Hirnorganoiden ausbreiten und den Tod neuronaler Zellen verursachen kann. Die Studie liefert wichtige Einblicke in einen bisher unerforschten Aspekt von MPXV-Infektionen.

Das Affenpockenvirus (MPXV) kann vom Tier auf den Menschen und von Mensch zu Mensch übertragen werden und die Krankheit Mpox verursachen. In den letzten Jahren haben sich zwei unterschiedliche genetische Gruppen, so genannte «Kladen», des MPXV entwickelt. Während die Klade I vor allem in Zentralafrika vorkommt, wurde die Klade II des MPXV im Sommer 2022 erstmals in über 100 Ländern weltweit nachgewiesen, darunter auch in der Schweiz. Darüber hinaus meldete im September 2023 die Weltgesundheitsorganisation (WHO) die Zunahme einer neuen MPXV-Untervariante (Klade Ib) in der Demokratischen Republik Kongo, deren Ausbreitung jüngst auch in mehreren Nachbarländern festgestellt wurde. Im August 2024 erklärte die WHO daher die Mpox-Epidemie zu einem «internationalen Gesundheitsnotstand». Obwohl Mpox in der Regel milde verläuft, oft mit grippeähnlichen Symptomen und Ausschlag, können ernste Komplikationen auftreten. Zwischen 1985 und 2021 entwickelten etwa 3% der mit dem MPXV infizierten Personen neurologische Symptome wie Krampfanfälle oder Gehirnentzündung (Enzephalitis), wobei einige Fälle tödlich verliefen. Das Ausmass, in dem das MPXV das zentrale Nervensystem des Menschen beeinträchtigt, ist jedoch nach wie vor kaum bekannt.

Ein Team von Forschenden des Instituts für Virologie und Immunologie (IVI) und der Universität Bern hat in Zusammenarbeit mit dem Centre hospitalier universitaire vaudois (CHUV) und dem eidgenössischen Labor Spiez erstmals nachgewiesen, dass sich das MPXV in Hirnorganoiden von Zelle zu Zelle ausbreiten kann und zum Absterben neuronaler Zellen führt. Die vom Multidisciplinary Center of Infectious Diseases (MCID) der Universität Bern unterstützte Studie wurde kürzlich in der Zeitschrift «Nature Communications» veröffentlicht.

Hirnorganoide: ein vielversprechendes Modell für die Untersuchung neurologischer Erkrankungen

Vor dieser Studie gab es bereits Berichte über neurologische Symptome bei Patienten und Patientinnen mit MPXV-Infektion. In Tierversuchen wurden auch Virusbestandteile im Gehirn infizierter Tiere nachgewiesen. Die Mechanismen, die diesen neurologischen Symptomen zugrunde liegen, sind jedoch noch weitgehend unerforscht. «Dies liegt wahrscheinlich daran, dass das Virus lange Zeit geografisch begrenzt war und nur wenige Proben und Modelle zur Verfügung standen, um die Auswirkungen von MPXV auf das Nervensystem zu untersuchen», sagt Prof. Dr. Marco Alves vom IVI und der Universität Bern, Letztautor der Studie.

Das Team von Forschenden verwendete innovative menschliche Hirnorganoide, um zu untersuchen, wie sich MPXV im Gehirn ausbreitet. «Hirnorganoide sind 3D-Gewebemodelle, die aus menschlichen pluripotenten Stammzellen erzeugt werden. Während sie zu neuronalem Gewebe heranreifen, bilden sie Strukturen, die bestimmte Merkmale des Gehirns nachbilden. Obwohl die Herstellung von Hirnorganoiden komplex ist, bieten sie ein enormes Potenzial für die Untersuchung neurologischer Erkrankungen», erklärt Isabel Schultz-Pernice, Doktorandin am IVI und an der Universität Bern, Erstautorin der Studie. Die kultivierten Organoide wurden einer Virusprobe ausgesetzt, die von einem Patienten isoliert wurde, der während des Ausbruchs von 2022 infiziert worden war. «Mithilfe fortschrittlicher bildgebender Verfahren konnten wir beobachten, wie sich das MPXV in neuronalen Zellen ausbreitet», fügt Schultz-Pernice hinzu. «Diese Experimente wären in vivo aufgrund ethischer und praktischer Einschränkungen äusserst schwierig, wenn nicht gar unmöglich gewesen. Dies unterstreicht das grosse Potenzial von Hirnorganoiden als humanrelevante Alternative zu Tiermodellen», sagt Marco Alves.

MPXV verursacht neuronalen Zelltod in Organoiden

Anhand ihres Modells zeigten die Forschenden, dass sich das Virus von Zelle zu Zelle entlang von Neuriten, den dünnen Fasern, die Neuronen miteinander verbinden, ausbreitet. Dabei manipuliert das MPXV den Transportmechanismus der Zellen, was zur Bildung so genannter «neuritic beads» führt. Diese perlenförmigen Verdickungen sind auch ein Kennzeichen neurodegenerativer Krankheiten wie Alzheimer. Die Bildung dieser Verdickungen geht dem Absterben der Nervenzellen voraus. «Interessanterweise führt eine MPXV-Infektion in unserem Organoidmodell zu einem signifikanten Absterben von Nervenzellen, ohne dass das umliegende Gewebe offensichtlich geschädigt wird», sagt Alves. «Diese Ergebnisse sind überraschend und wichtig, nicht nur für das Verständnis des pathologischen Potenzials des MPXV, sondern auch, um die Infektionsmechanismen neuroinvasiver Viren im Allgemeinen zu entschlüsseln», fügt er hinzu. Die Forschenden zeigten auch, dass die Viruslast mit dem antiviralen Medikament Tecovirimat deutlich reduziert werden kann, was auf mögliche therapeutische Strategien zur Behandlung schwerer Mpox-Fälle hindeutet.

Innovative Forschung unter Hochsicherheitsbedingungen

Angesichts des jüngsten weltweiten Anstiegs der Mpox-Fälle sind diese neuen Erkenntnisse von grosser Bedeutung, nicht nur für die Virologie und Neurobiologie, sondern auch aus Sicht der öffentlichen Gesundheit. Die Ergebnisse heben einen bisher unerforschten Aspekt der MPXV-Infektion hervor, nämlich ihr neuropathologisches Potenzial. Sie unterstreichen den Bedarf an weiterer Forschung in diesem Bereich und tragen gleichzeitig zur Entwicklung gezielter Therapien bei. Die Studie wurde vom MCID unterstützt, welches die Forschung zur Minderung der gesundheitlichen, sozialen, ethischen und wirtschaftlichen Risiken von Infektionskrankheiten fördert, sowie vom IVI, das ein sicheres Umfeld für die Arbeit mit hochansteckenden Krankheitserregern bietet. «Die Zusammenarbeit von Forschenden mit umfassender Erfahrung im Umgang mit hochansteckenden Krankheitserregern in Verbindung mit einer hochmodernen Infrastruktur war für den Erfolg dieser Studie entscheidend», so Alves abschliessend.

Angaben zur Publikation:

Isabel Schultz-Pernice, Amal Fahmi, Francisco Brito et al. (2025). Monkeypox virus spreads from cell-to-cell and leads to neuronal death in human neural organoids. Nature Communications, published online on 30 June 2025. URL: https://www.nature.com/articles/s41467-025-61134-0
DOI: 10.1038/s41467-025-61134-0

Institut für Virologie und Immunologie (IVI)

Das Institut für Virologie und Immunologie (IVI) ist das Schweizer Referenzlabor für Diagnose, Kontrolle und Erforschung hochansteckender viraler Tierseuchen, einschliesslich viraler Zoonosen (zwischen Tier und Mensch übertragbare Infektionskrankheiten). In Zusammenarbeit mit der Universität Bern ist das IVI zudem zuständig für Lehre und Forschung auf den Gebieten Virologie und Immunologie verantwortlich. Die Forschungsaktivitäten beinhalten Grundlagenforschung sowie angewandte Forschung und sind eine wichtige Grundlage für die Bekämpfung von hochansteckenden Tierseuchen, anderer wichtiger viraler Tierkrankheiten und Zoonosen.
Das IVI ist dem Bundesamt für Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen (BLV) angegliedert.
Weitere Informationen: https://www.ivi.admin.ch/de

Multidisciplinary Center for Infectious Diseases (MCID) der Universität Bern

Das MCID ist das jüngste strategische Zentrum der Universität Bern. Es wurde 2021 mit der grosszügigen Unterstützung der Stiftung Vinetum gegründet und ist an der Vetsuisse-Fakultät angesiedelt. Das MCID widmet sich der Erforschung und Minderung von gesundheitlichen, gesellschaftlichen, ethischen und wirtschaftlichen Risiken von Infektionskrankheiten. Die Gründung des MCID war eine unmittelbare Folge der SARS-CoV-2-Pandemie, welche die Bedrohung durch Infektionskrankheiten nicht nur auf die persönliche Gesundheit und die Gesundheitsversorgung aufzeigte, sondern auf alle Bereiche des modernen Lebens, unabhängig von individuellen Umständen. Forschung ist notwendig, um Lehren aus der Vergangenheit und aus der aktuellen Pandemie zu ziehen und um künftige Bereitschaftskonzepte für den Ausbruch von Infektionskrankheiten und Pandemien zu untersuchen, zu entwickeln und zu validieren. Das MCID besteht aus 70 Mitgliedern der Universität Bern, des Inselspitals Bern und assoziierten Instituten. Es wird von Prof. Dr. Volker Thiel und Prof. Dr. Carmen Faso geleitet.
Weitere Informationen: https://www.mcid.unibe.ch/index_ger.html

 

30.06.2025