Wie gestörte Zellprozesse Krebs fördern

Forschende der Universität Bern haben zusammen mit Forschenden der Stanford University und dem European Molecular Biology Laboratory (EMBL) einen neuen Zellmechanismus entdeckt. Dieser kontrolliert die Stabilität von sogenannter messenger RNA (mRNA) in den Zellen. Tumore können schneller wachsen, wenn dieser Mechanismus gestört wird. Die Erkenntnisse eröffnen neue Möglichkeiten zur Krebstherapie.

Jede Zelle enthält Tausende von Proteinen, von denen jedes eine bestimmte Aufgabe in der Zelle erfüllt. Um ein Protein herzustellen, muss zunächst ein Gen in die sogenannte Boten-RNA (mRNA) übersetzt werden. Diese dient dann als Bauplan für die Produktion des Proteins durch Ribosomen, die «Proteinfabriken» in den Zellen. So wurde beispielsweise die RNA (Ribonukleinsäure) in den mRNA-Impfstoffen, die die Coronapandemie beendet haben, chemisch verändert bzw. modifiziert – eine Strategie, die 2023 mit dem Nobelpreis für Medizin ausgezeichnet wurde. Solche Modifizierungen kommen aber auch natürlicherweise in der RNA vor und beeinflussen, wie stabil der «Protein-Bauplan» ist. Eine stabilere mRNA bedeutet, dass das Gen aktiver ist und mehr von einem bestimmten Protein produziert wird. RNA-Veränderungen wurden bei Krebs oder neurodegenerativen Erkrankungen immer wieder beobachtet. Dennoch war bislang unklar, wie dies mit dem Entstehen der Krankheiten zusammenhängt und konnte deshalb nicht für medizinische Behandlungen genutzt werden.

Ein Team unter der Leitung von Prof. Dr. Sebastian Leidel vom Department für Chemie, Biochemie und Pharmazie der Universität Bern hat jetzt in Zusammenarbeit mit Forschenden der Universität Stanford und dem European Molecular Biology Laboratory (EMBL) neue Erkenntnisse zu dieser Frage gewonnen. Sie haben einen bisher unbekannten Mechanismus entdeckt, bei dem das Zusammenspiel zweier solcher RNA-Modifizierungen während der Proteinproduktion den Abbau von mRNA kontrolliert. Die Studie wurde durch den Nationalen Forschungsschwerpunktes NCCR RNA & Disease des Schweizerischen Nationalfonds unterstützt und kürzlich in der Fachzeitschrift Cell veröffentlicht.

Eine unerwartete Funktion

Die häufigste Modifizierung von mRNA ist N6-Methyladenosin – kurz m6A – und wird in über 2’500 wissenschaftlichen Studien pro Jahr untersucht. Die wichtigste Funktion von m6A liegt darin zu kontrollieren, wie rasch mRNA abgebaut wird. Obwohl diese Rolle unstrittig war, war der zugrunde liegende Mechanismus unbekannt. Die Berner Forschenden fanden nun heraus, dass die Ribosomen, welche die Proteine produzieren, beim Lesen der mRNA über die m6A Veränderung «stolpern» und «zusammenstossen». Dadurch lösen Ribosomen den beschleunigten Abbau von mRNA aus. «Wir können messen, wie schnell Ribosomen die mRNA ablesen, um Proteine zusammenzusetzen. Zu unserer Überraschung sahen wir, dass Ribosomen Schwierigkeiten haben, die m6A Modifizierung auf der mRNA zu lesen», erklärt Prof. Sebastian Leidel, Hauptautor der Studie.

Besonders spannend wurde es, als die Forschenden sogenannte Transfer RNAs (tRNA) in ihre Untersuchung einbezogen. tRNAs spielen eine wichtige Rolle bei der Übersetzung einer mRNA in ein Protein und sind selbst chemisch modifiziert. Es braucht eine bestimmte chemische Signatur auf der tRNA, um m6A lesen zu können. «Fehlt diese Signatur auf der tRNA, wird eine mRNA mit m6A sehr instabil und es kommt zu Ribosomenkollisionen» so Leidel. Zellen nutzen also das Zusammenspiel einer mRNA-Modifizierung mit einer tRNA-Modifizierung, um sehr präzise einzustellen, wie schnell mRNA abgebaut wird. Dies ist insbesondere wichtig, da sowohl zu viel als auch zu wenig Genaktivität zu Krankheit führen kann. So konnten die Forschungsteams zeigen, dass besonders die mRNAs für wichtige Signalmoleküle, die bei der Krebsentstehung eine grosse Rolle spielen, stabilisiert werden. Auf diese Weise werden Signalproteine effizient produziert und tragen zur Ausbreitung der Krebszellen bei.

Ein neuer Ansatz für die Krebstherapie

Die neuen Erkenntnisse können dazu beitragen neue Krebstherapien zu entwickeln. «Unsere Recherche in öffentlichen Datenbanken hat ergeben, dass in fast allen Krebsarten das Verhältnis dieser speziellen chemischen Signatur zu m6A gestört war. Je mehr die tRNAs im Verhältnis zur mRNA modifiziert waren, desto ungünstiger fielen die Prognosen für Patienten und Patientinnen aus», fasst Leidel zusammen. Dr. Bastian Linder vom EMBL und ein Erstautor der Studie, ergänzt: «Dieser völlig neue Weg der Genregulation eröffnet auch neue Möglichkeiten für die Behandlung von Krankheiten, die durch Veränderungen in der Aktivität von Genen verursacht werden, wie zum Beispiel Krebs». Linder gründete daher die Firma Umlaut.bio, um tRNA-Modifizierungen als Wirkstoffziele nutzbar zu machen. So sollen die neuen Erkenntnisse aus der Grundlagenforschung möglichst rasch dem Wohl von Patientinnen und Patienten zugutekommen.

Der Wert wissenschaftlicher Kooperation

«Unsere Studie ist ein hervorragendes Beispiel für die Bedeutung von Zusammenarbeit in der Wissenschaft», meint Leidel. «Unsere Kollaborationspartner konnten genau sagen, wo sich m6A in mRNA befinden, und wir konnten messen, wie schnell Ribosomen die mRNA an solchen Stellen ablesen. Wir hatten zwar unabhängig voneinander die gleiche Idee, konnten sie aber nicht testen. Erst als wir unsere Daten zusammenführten, entdeckten wir den neuen Mechanismus» so Leidel abschliessend.

Angaben zur Publikation:

Linder B, Sharma P, Wu J, Birbaumer T, Eggers C, Murakami S, Ott RE, Fenzl K, Vorgerd H, Erhard F, Jaffrey SR, Leidel SA, Steinmetz LM (2025) tRNA modifications tune m6A-dependent mRNA decay. Cell. Epub ahead of print. PMID: 40311619
URL: www.cell.com/cell/fulltext/S0092-8674(25)00415-5
DOI: 10.1016/j.cell.2025.04.013

NCCR RNA & Disease – Die Rolle von RNA in Krankheitsmechanismen

Der Nationale Forschungsschwerpunkt (NCCR) «RNA & Disease – Die Rolle von RNA in Krankheitsmechanismen» widmet sich der Untersuchung einer sehr zentralen Klasse von Molekülen. Die RNA (Ribonukleinsäure) ist der Drehpunkt vieler Lebensvorgänge und funktional weit vielfältiger als ursprünglich angenommen. Sie definiert beispielsweise, wann und in welchen Zellen welche Gene aktiv oder inaktiv sind. Läuft bei dieser genetischen Regulation nicht alles rund, entstehen Krankheiten – etwa Herzerkrankungen, Krebs, Hirn- und Stoffwechselkrankheiten. Der NCCR vereint Schweizer Forschungsgruppen, die sich mit verschiedenen Aspekten der RNA-Biologie befassen. Indem der NCCR aufdeckt, welche regulatorischen Mechanismen während einer Erkrankung aus dem Ruder laufen, zeigt er auch neue therapeutische Angriffsziele auf. Die Universität Bern ist Leading House des NCCR, die ETH Zürich ist Co-leading House. Nationale Forschungsschwerpunkte sind ein Forschungsinstrument des Schweizerischen Nationalfonds SNF.
Weitere Informationen: https://nccr-rna-and-disease.ch/

09.05.2025