Kann KI Emotionen besser verstehen als wir?

Ist die künstliche Intelligenz (KI) in der Lage, in emotional aufgeladenen Situationen das richtige Verhalten vorzuschlagen? Ein Team der Universität Bern und der Universität Genf hat sechs generative KI – darunter ChatGPT – mit Hilfe von Tests zur emotionalen Intelligenz, die normalerweise für Menschen entwickelt werden, auf die Probe gestellt. Das Ergebnis: Die KIs übertrafen die durchschnittliche menschliche Leistung und waren sogar in der Lage, neue Tests in Rekordzeit zu erstellen. Diese Ergebnisse eröffnen neue Möglichkeiten für KI in den Bereichen Bildung, Coaching und Konfliktmanagement.

Large Language Models (LLMs) sind KI-Systeme, die menschliche Sprache verarbeiten, interpretieren und generieren können. Die generative KI ChatGPT zum Beispiel basiert auf dieser Art von Modellen. LLMs können Fragen beantworten und komplexe Probleme lösen. Aber können sie auch emotional intelligentes Verhalten vorschlagen?

Um dies herauszufinden, unterzog ein Team des Instituts für Psychologie der Universität Bern und des Swiss Center for Affective Sciences (CISA) der Universität Genf sechs LLMs - ChatGPT-4, ChatGPT-01, Gemini 1.5 Flash, Copilot 365, Claude 3.5 Haiku und DeepSeek V3 - Tests zur emotionalen Intelligenz. «Wir haben fünf Tests ausgewählt, die sowohl in der Forschung als auch in Unternehmen eingesetzt werden. Sie beinhalteten emotional aufgeladene Szenarien, mit denen die Fähigkeit bewertet werden sollte, Emotionen zu verstehen, zu regulieren und zu managen», sagt Katja Schlegel, Dozentin und Untersuchungsleiterin an der Abteilung für Persönlichkeitspsychologie, Differentielle Psychologie und Diagnostik am Institut für Psychologie der Universität Bern sowie Hauptautorin der Studie. Die Studie wurde in der Fachzeitschrift Communications Psychology veröffentlicht.

Fallstudien

Ein Beispiel für ein solches Szenario war: Ein Kollege von Michael hat seine Idee gestohlen und wird zu Unrecht beglückwünscht. Wie würde Michael am effektivsten reagieren?

a) In eine Auseinandersetzung mit dem betreffenden Kollegen gehen

b) Mit dem Vorgesetzten über die Situation sprechen

c) Sich im Stillen über den Kollegen ärgern

d) Eine Idee zurückstehlen

Hier wurde Option b) als am besten geeignet angesehen.

Parallel dazu wurden dieselben fünf Tests mit menschlichen Teilnehmerinnen und Teilnehmern durchgeführt. «Am Ende erzielten die LLMs eine deutlich höhere Punktzahl – 82% richtige Antworten gegenüber 56% bei den Menschen. Dies deutet darauf hin, dass diese KIs nicht nur Emotionen verstehen, sondern auch begreifen, was es bedeutet, sich emotional intelligent zu verhalten», erklärt Marcello Mortillaro, leitender Forscher am Swiss Center for Affective Sciences (CISA) der Universität Genf und Ko-Autor der Studie.

Neue Tests in Rekordzeit

In einer zweiten Phase baten die Forschenden ChatGPT-4, neue Tests zur emotionalen Intelligenz mit neuen Szenarien zu erstellen. Diese automatisch generierten Tests wurden dann von über 400 Teilnehmerinnen und Teilnehmern durchgeführt. «Diese Tests erwiesen sich als ähnlich zuverlässig, klar und realistisch wie die ursprünglichen Tests, deren Entwicklung Jahre gedauert hatte», erklärt Katja Schlegel. «LLMs sind also nicht nur in der Lage, die beste Antwort unter den verschiedenen verfügbaren Optionen zu finden, sondern auch neue Szenarien zu generieren, die an einen gewünschten Kontext angepasst sind. Dies bestärkt uns in der Annahme, dass LLMs wie ChatGPT über emotionales Wissen verfügen und über Emotionen nachdenken können», fügt Marcello Mortillaro hinzu.

Diese Ergebnisse ebnen den Forschenden zufolge den Weg für den Einsatz von KI in Bereichen, die bisher dem Menschen vorbehalten waren, wie etwa Bildung, Coaching oder Konfliktmanagement – vorausgesetzt, sie wird von Expertinnen und Experten eingesetzt und beaufsichtigt.

Angaben zur Publikation:

Katja Schlegel, Nils R. Sommer & Marcello Mortillaro: Large language models are proficient in solving and creating emotiona lntelligence tests. Communication psychology, 21.5.2025, 3:80.
URL: https://doi.org/10.1038/s44271-025-00258-x
DOI: 10.1038/s44271-025-00258-x

Abteilung Persönlichkeits-, Differentielle Psychologie und Diagnostik am Institut für Psychologie der Universität Bern

Die Abteilung befasst sich mit der Erforschung interindividueller Unterschiede im menschlichen Erleben und Verhalten. Neben traditionellen psychometrischen Testverfahren kommen auch experimentelle und psychophysiologische Methoden sowie moderne digitale Techniken (Learning Analytics, Large Language Models, Machine Learning, Smartphone Sensing) zum Einsatz. Zu den aktuellen Forschungsschwerpunkten zählen unter anderem der Zusammenhang zwischen Informationsverarbeitungsprozessen und Intelligenz, die Auswirkungen emotionaler Kompetenzen aufs Wohlbefinden und soziale Interaktionen, Methodeneffekte in psychometrischen Tests sowie die Untersuchung von Persönlichkeitsmerkmalen im Kontext zwischenmenschlicher Beziehungen.
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22.05.2025