Historische Grenzziehungen neu denken

In ihrem neuen Buch untersucht Francesca Falk, Dozentin für Migrationsgeschichte an der Universität Bern, wie historische Grenzziehungen bis heute wirken. In einer Zeit, in der politische Zugehörigkeit und soziale Teilhabe weltweit neu verhandelt werden, liefert ihr Buch einen kritischen Beitrag: Es zeigt auf, wie Geschichtswissenschaft helfen kann, die Gegenwart anders zu sehen – und neue Zukünfte zu denken.

In ihrem neuen Buch «Gegen die blendende Evidenz der Gegenwart: Geschichte, die in die Zukunft weist», welches am 11. April 2025 im Seismo Verlag erscheint, bündelt Francesca Falk vom Historischen Institut der Universität Bern zentrale Ergebnisse ihrer langjährigen Forschung zu Grenzziehungen, Zugehörigkeitsdiskursen und gesellschaftlichem Wandel. Die Publikation entstand an der Dozentur für Migrationsgeschichte des Historischen Instituts.

Francesca Falk zeigt, wie Grenzziehungen entlang von Herkunft, Geschlecht oder politischem Status historisch etabliert wurden und welche Spuren sie im kollektiven Bewusstsein hinterlassen haben. «Eine Geschichtswissenschaft, die in die Zukunft weist, muss sich fragen, wie historische Prozesse unsere Gegenwart prägen – und welche anderen Zukünfte einmal möglich gewesen wären», sagt Francesca Falk. «Ich widmet mich in der Publikation auch der ständigen Aushandlung darüber, wer zu einem ‘Wir’ gehört und damit bestimmte Rechte erhält – und wer nicht, einem grundlegenden gesellschaftlicher Mechanismus.»

Der «Schwarzenbacheffekt»: Erinnerungspolitik neu denken

Für die Untersuchung kombinierte Falk klassische Methoden der Geschichtswissenschaft mit Ansätzen der Public, Visual und Oral History. Durch die Analyse historischer Quellen und Interviews mit Zeitzeuginnen und Zeitzeugen – etwa im Kontext migrationspolitischer Abstimmungen – werden dominante Narrative hinterfragt und marginalisierte Perspektiven sichtbar gemacht. Ein Ergebnis der Studie ist etwa die Analyse des «Schwarzenbacheffekts»: Die Autorin rekonstruiert anhand von Interviews mit Betroffenen, wie sich die Debatten rund um die Schwarzenbach-Initiative 1970 auf das Leben zahlreicher Arbeitsmigrantinnen- und Migranten ausgewirkt haben. Viele dieser Menschen erfuhren nicht nur Bedrohung, sondern wurden durch den politischen Druck auch mobilisiert – sie gründeten Selbsthilfestrukturen, wurden politisch aktiv und prägten die Schweizer Demokratiegeschichte mit. «Die Geschichte der Migration ist nicht nur eine Geschichte der Ausschlüsse, sondern auch eine des Widerstands, der Solidarität und der aktiven Teilhabe», betont Francesca Falk. Diese Perspektive werde im öffentlichen Diskurs oft übersehen – obwohl sie wesentlich sei für das Verständnis von gesellschaftlichem Wandel.

Gesellschaftlicher Mehrwert und zukünftige Forschungsfragen

Die Resultate sind nicht nur für die historische Forschung von Bedeutung, sondern auch für aktuelle politische und gesellschaftliche Diskussionen. Sie zeigen: Viele gegenwärtige Herausforderungen – etwa in Migrations- oder Demokratiedebatten – sind historisch gewachsen. Wer diese Entwicklungen verstehen will, brauche eine kritische Perspektive auf ihre Entstehung. «Fehlt uns das Wissen um die historische Gewordenheit unserer Gegenwart, bleiben wir Gefangene des Jetzt», sagt Falk. «Ich will mit meiner interdisziplinär ausgerichteten Forschung wesentlich zur zeitdiagnostischen Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Umbrüchen beitragen», so Falk abschliessend.

Diese Publikation wurde vom Schweizerischen Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung­ unterstützt. Publiziert wurde sie mit der Unterstützung der Universitätsbibliothek Bern.

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Francesca Falk: Gegen die blendende Evidenz der Gegenwart

Die Historikerin Francesca Falk untersucht in ihrem neuen Buch, wie eine Gesellschaft das «Wir» definiert und Grenzen zieht. Sie zeigt dabei die vielfältigen Auswirkungen auf.
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Angaben zur Publikation:

Francesca Falk (2025): Gegen die blendende Evidenz der Gegenwart: Geschichte, die in die Zukunft weist. Seismo Verlag, Sozialwissenschaften und Gesellschaftsfragen AG, Zürich und Genf, 106 Seiten.

Das Buch ist «Open Access» und gratis als PDF-Download erhältlich.

URL: https://www.seismoverlag.ch/de/daten/gegen-die-blendende-evidenz-der-gegenwart/
DOI: https://doi.org/10.33058/seismo.30905
ISBN 978-3-03777-298-0 (Print)
ISBN 978-3-03777-905-7 (PDF)
ISSN 2813-6837 (Print)
ISSN 2813-6853 (Online)

Historisches Institut

Das Historische Institut der Universität Bern forscht und lehrt Geschichtswissenschaft in ihrer thematischen Breite und methodischen Vielfalt. Es umfasst Forschungsbereiche von der Antike bis zur Gegenwart sowie europäische und aussereuropäische Geschichte. Besondere Schwerpunkte liegen auf der Geschichte Lateinamerikas, Osteuropas sowie der Umwelt- und Klimageschichte. Als einziges Institut der Deutschschweiz verfügt es über eine eigenständige Dozentur für Migrationsgeschichte.
Weitere Informationen: https://www.hist.unibe.ch

10.04.2025