Die Physik hält stand: Neue Teilchen lassen weiter auf sich warten
Das US-amerikanische Forschungszentrum für Teilchenphysik «Fermilab» hat kürzlich zum dritten Mal die Ergebnisse eines wegweisenden Experiments mit Myonen veröffentlicht – Teilchen, die eine zentrale Rolle im sogenannten Standardmodell der Teilchenphysik spielen. Zeitgleich wurde unter der Leitung von Forschenden der Universität Bern eine neue Studie zu komplexen theoretischen Berechnungen des sogenannten magnetischen Dipolmoments des Myons publiziert. Der Vergleich der theoretischen Berechnungen mit den Ergebnissen des Experiments bestätigt das Standardmodell der Teilchenphysik, zeigt aber gleichzeitig, dass die Theorie weiter verbessert werden muss.
Das Standardmodell der Teilchenphysik beschreibt die grundlegenden Bausteine des Universums – also die kleinsten Teilchen, aus denen alles besteht – und die Kräfte, die diese Teilchen zusammenhalten. Es ist die Basis für unser Verständnis davon, wie das Universum funktioniert, von den winzigen Teilchen in Atomen bis zu den riesigen Strukturen im Weltall. Obwohl es bisher sehr erfolgreich ist, vermuten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, dass das Modell noch nicht alle Geheimnisse des Universums erklärt. Deshalb ist es essenziell, es mit höchster Präzision zu prüfen.
Ein wichtiger Test dafür ist ein Experiment am US-Forschungszentrum für Teilchenphysik «Fermilab», das eine besondere Eigenschaft des Teilchens Myon misst: das sogenannte anomale magnetische Dipolmoment. Es beschreibt, wie das Myon auf Magnetfelder reagiert. Das Experiment am Fermilab lieferte kürzlich die dritte und letzte hochpräzise experimentelle Messung des anomalen magnetischen Dipolmoments des Myons. 2017 wurde zudem die «Muon g-2 Theory Initiative» gegründet, eine internationale Forschungskooperation, die sich mit der theoretischen Berechnung des anomalen magnetischen Dipolmoments des Myons beschäftigt. Als Mitglieder der «Muon g-2 Theory Initiative» haben Forschende des Albert Einstein Center for Fundamental Physics und des Instituts für Theoretische Physik (ITP) der Universität Bern parallel zum Experiment am Fermilab die theoretische Berechnung des anomalen magnetischen Dipolmoments des Myons im Rahmen des Standardmodells erarbeitet.
Warum das Myon ein spannendes Teilchen ist
Das Elementarteilchen Myon besitzt ein magnetisches Moment, dessen Stärke im Verhältnis zu seinem Spin durch das sogenannte gyromagnetische Verhältnis «g» beschrieben wird. In erster Näherung ist dieser Wert von g für das Myon 2. Mit präzisen experimentellen Messungen konnte jedoch bereits vor rund siebzig Jahren festgestellt werden, dass der genaue Wert leicht – im Promille-Bereich – von 2 abweicht. Die Abweichung von g von 2, also «g-2», ist das sogenannte anomale magnetische Dipolmoment.
«Das anomale magnetische Dipolmoment wurde in den letzten Jahrzenten mit steigender Genauigkeit gemessen», sagt Gilberto Colangelo, Direktor des Albert Einstein Center und des Instituts für Theoretische Physik an der Universität Bern und Mitglied des Steering Committees der «Muon g-2 Theory Initiative». «Die experimentellen Messungen gewinnen ihre grosse Bedeutung auch dadurch, dass g-2 auch theoretisch mit hoher Genauigkeit berechnet werden kann und die experimentellen und theoretischen Ergebnisse miteinander verglichen werden können», so Colangelo weiter. «Eine Abweichung zwischen Theorie und Experiment wäre ein deutlicher Hinweis, dass das Standardmodell der Teilchenphysik erweitert werden müsste – zum Beispiel mit neuen, bisher unbekannten Teilchen», erklärt Colangelo.
Geringe Wahrscheinlichkeit auf Entdeckung neuer Teilchen
«Die theoretische Berechnung von g-2 im Standardmodell ist sehr aufwendig. Fortschritte wurden über die letzten siebzig Jahre durch akribische Arbeit vieler Theoretikerinnen und Theoretiker gemacht», sagt Martin Hoferichter, Professor für Theoretische Physik an der Universität Bern und ebenfalls Mitglied des Steering Committees der Initiative.
Im Jahr 2020 veröffentlichte die Initiative einen ersten präziseren theoretischen Wert. Dieser wurde berechnet anhand von Daten aus Teilchenexperimenten aus der ganzen Welt für sogenannte Elektron-Positron Streuung. «Der Vergleich dieses berechneten Werts mit bisherigen experimentellen Messungen zeigte eine Abweichung», so Hoferichter. Als das Fermilab 2021 erste Ergebnisse präsentierte, wurde auch eine neue theoretische Vorhersage des Werts für g-2 durch die «Budapest-Marseille-Wuppertal Collaboration» – einer internationalen Forschungsgruppe – veröffentlicht (siehe den Bericht im Fachjournal Physics Reports). Diese Berechnung beruhte auf einer Technik, welche die zugrundeliegende Theorie durch numerische Simulationen auf Supercomputern löst und bei der keine Daten aus den Elektron-Positron Experimenten mehr benötigt werden. «Der Vergleich der experimentellen und der neuen theoretischen Ergebnisse zeigte in diesem Fall eine geringere Abweichung, konsistent im Rahmen der erreichten Genauigkeit», erklärt Hoferichter.
Die Ergebnisse der jüngsten und letzten Messung im «Myon g-2 Experiment» am Fermilab stimmen mit den Ergebnissen aus den Jahren 2021 und 2023 überein. Sie zeigen allerdings mit 0.127 ppm (parts per million, Einheit für die Genauigkeit bei Messungen) eine wesentlich bessere Genauigkeit. Die letzte Messung basiert auf allen Daten der letzten sechs Jahre des Experiments am Fermilab. Damit konnte die Kollaboration ihr 2012 vorgeschlagenes Präzisionsziel, eine Messung mit einer Genauigkeit von 0.14 ppm erreichen. Parallel zu den experimentellen Messungen am Fermilab hat die «Muon g-2 Theory Initiative» nun eine neue theoretische Berechnung des anomalen magnetischen Dipolmoments des Myons veröffentlicht. «Die Berechnungen basieren erneut auf der Technik, die sich auf numerische Simulationen stützt», erklärt Urs Wenger, Professor am Institut für Theoretische Physik und Mitautor des Berichts zur theoretischen Berechnung. «Der jüngst ermittelte theoretische Wert für g-2 zeigt eine grössere Übereinstimmung mit dem experimentell gemessenen Wert am Fermilab. Diese Beobachtung stützt das Standardmodell der Teilchenphysik und verringert die Wahrscheinlichkeit, dass in naher Zukunft neue, bislang unbekannte Teilchen oder Kräfte entdeckt werden», so Wenger weiter.
Weitere Berechnungen und Experimente in Aussicht
Zukünftige Experimente, wie jenes, das am Japan Proton Accelerator Research Complex – einem internationalen Forschungszentrum in Japan, das sich mit der Erforschung der Grundlagen der Materie beschäftigt – geplant ist, werden weitere Messungen des anomalen magnetischen Dipolmoments des Myons vornehmen.
«Parallel dazu wird die ‘Muon g-2 Theory’ weiterhin an der Verfeinerung theoretischer Berechnungen arbeiten und versuchen, die Unstimmigkeiten zwischen den verschiedenen Methoden zu lösen. Dies ist umso wichtiger, da im Moment die experimentelle Präzision viermal so gut ist wie die der theoretischen Rechnung. Damit kann die Sensitivität auf neue Teilchen jenseits des Standardmodells entsprechend verbessert werden, sobald die theoretische Genauigkeit der jetzt experimentell erreichten entspricht. Dazu werden zukünftig einerseits verbesserte numerische Simulationen nötig sein, andererseits neue Experimente für Elektron-Positron Streuung sowie zusätzliche komplementäre Methoden, wie sogenannte tau-Zerfälle oder das MUonE Projekt, welches sich aktuell am CERN bei Genf, der Europäischen Organisation für Kernforschung, in der Vorbereitung befindet», sagt Colangelo abschliessend.
Angaben zur Publikation:Aliberti, R. et al. (2025). The anomalous magnetic moment of the muon in the Standard Model: an update. (27. Mai 2025) |
Albert Einstein Center for Fundamental PhysicsDas Albert Einstein Center for Fundamental Physics (AEC) wurde 2011 gegründet. Sein Ziel ist es, Forschung und Lehre in der Grundlagenphysik an der Universität Bern auf höchster Ebene zu fördern. Der Schwerpunkt liegt auf der experimentellen und theoretischen Teilchenphysik und ihren Anwendungen (z.B. Medizinphysik), sowie auf den damit verbundenen Spin-off- und Outreach-Aktivitäten. Das AEC wurde unter Mitwirkung des Instituts für Theoretische Physik (ITP) und des Labors für Hochenergiephysik (LHEP) der Universität Bern gegründet. Mit seinen über 100 Mitgliedern ist das AEC eine der grössten universitären Gruppen von Forschenden, die in der Schweiz auf dem Gebiet der Teilchenphysik arbeiten, und ein starker Akteur auf internationaler Ebene. Mehr Informationen: https://www.einstein.unibe.ch/ |
Zusammenarbeit zwischen Fermilab und der Universität BernDas US-amerikanische Forschungslabor «Fermilab» und die Universität Bern arbeiten auch bei der Erforschung der Neutrinos zusammen. Neben Photonen sind Neutrinos die am häufigsten vorkommenden Elementarteilchen im Universum. Ihre Rolle bei der Entwicklung des Universums ist von grosser Bedeutung und motiviert Physikerinnen und Physiker weltweit. Im September 2019 unterzeichneten Fermilab und die Universität Bern eine Vereinbarung über ihre künftige Zusammenarbeit bei Neutrino-Experimenten. Es ist das erste Abkommen zwischen einer Schweizer Universität und Fermilab, einem der weltweit führenden Labors für Teilchenphysik, das inzwischen stark an der Erforschung der Neutrinos beteiligt ist. Der Beitrag der Berner Forschenden an der wissenschaftlichen Zusammenarbeit umfasst drei Projekte: MicroBooNE, SBND und das Deep Underground Neutrino Experiment (DUNE), das als das ultimative Neutrino-Observatorium der Welt gilt. Mehr Informationen |
10.06.2025