Neutrino-Wechselwirkungen bei so hoher Energie wie nie zuvor gemessen
Einem Team mit Beteiligung von Forschenden des Laboratoriums für Hochenergiephysik der Universität Bern ist es gelungen, die Wechselwirkungen von Neutrinos, die bei Teilchenkollisionen im Large Hadron Collider (LHC) des CERN erzeugt werden, bei bisher unerreichten Energien zu messen. Ein besseres Verständnis dieser schwer fassbaren Elementarteilchen kann helfen, die Frage zu beantworten, warum es im Universum mehr Materie als Antimaterie gibt.
Neutrinos sind Elementarteilchen, die in der Frühphase des Universums eine wichtige Rolle gespielt haben. Sie sind der Schlüssel, um mehr über grundlegende Naturgesetze zu erfahren, wie z.B. die Frage, wie Teilchen ihre Masse erhalten und warum es im Universum mehr Materie als Antimaterie gibt. Obwohl Neutrinos zu den häufigsten Teilchen im Universum gehören, sind sie sehr schwer zu untersuchen, da sie nur selten mit anderer Materie in Wechselwirkung treten. Sie werden daher oft als «Geisterteilchen» bezeichnet. Ihre Existenz ist seit einigen Jahrzehnten bekannt, und Neutrinos spielten eine wichtige Rolle beim Aufbau des so genannten Standardmodells der Teilchenphysik – der «Weltformel» für die kleinsten Bausteine der Materie. Bisher wurden jedoch vor allem Neutrinos im niedrigen Energiebereich untersucht, die in eigens dafür konstruierten Anlagen erzeugt wurden.
Der internationalen FASER-Kollaboration, an der auch Forschende des Laboratoriums für Hochenergiephysik (LHEP) der Universität Bern beteiligt sind, ist es gelungen, die Wechselwirkung von Elektron- und Muon-Neutrinos (zwei Unterarten von Neutrinos) mit Atomkernen bei der bisher höchsten Energie (rund 1 Tera-Elektronvolt oder TeV) zu messen. Die Messung gelang mit dem FASERν-Teilchendetektor des FASER-Experiments, das Neutrinos misst, die bei Teilchenkollisionen im Large Hadron Collider (LHC) des CERN (Europäische Organisation für Kernforschung in Genf) entstehen. Dies ist die erste Beobachtung von Elektron-Neutrinos am LHC. «Dieses Forschungsresultat ist von grosser Bedeutung, weil die Untersuchung von Neutrinos bei so hohen Energien die Möglichkeit bietet, tiefere Einblicke in die fundamentalen Gesetze der Natur zu gewinnen, seltene Prozesse zu studieren und möglicherweise neue physikalische Phänomene zu entdecken», sagt Akitaka Ariga, Teilchenphysiker und Leiter der FASER-Gruppe am Laboratorium für Hochenergiephysik (LHEP) der Universität Bern. Die Studie wurde in der Fachzeitschrift Physical Review Letters veröffentlicht.
Modernste Nachweistechnik
Der Neutrinodetektor FASERnu beobachtet hochenergetische Neutrinos, die bei Proton-Proton-Kollisionen im LHC erzeugt werden. Er befindet sich unter der Erde 480 Meter vom eigentlichen Kollisionspunkt und besteht aus abwechselnden Schichten von Wolframplatten und Emulsionsfilmen, die Partikelspuren mit nanometergenauer Präzision erfassen können. Dieser 1,1 Tonnen schwere Detektor mit modernster Technologie ist seit 2022 in Betrieb. «In der aktuellen Studie wurde ein Teil der 2022 mit dem FASERν-Detektor gesammelten Daten analysiert. Das sind nur zwei Prozent der bisher gesammelten Daten, wir haben also noch viel vor», erklärt Ariga, der das Projekt FASERnu leitet.
Hochenergetische Neutrinos als Schlüssel zu neuer Physik?
Im FASER-Experiment soll in den nächsten Jahren die Zahl der nachgewiesenen Neutrinos verhundertfacht werden, um Fragen nach den Unterschieden zwischen den insgesamt drei Neutrino-Unterarten und möglichen unbekannten Kräften zu klären. Das Tau-Neutrino, die dritte Unterart, ist bei niedrigen Energien schwer zu erzeugen und nachzuweisen. «Die hohe Energie des FASER-Experiments ermöglicht es, Tau-Neutrinos effizienter zu erzeugen und zu untersuchen. Über diese Neutrinos ist bisher wenig bekannt und sie könnten neue physikalische Erkenntnisse liefern», merkt Ariga an. Das FASER-Experiment wird noch bis Ende 2025 Daten sammeln.
Zukünftige Experimente, wie das Folgeexperiment FASERν2, sollen mehr als 10’000 Mal grössere Datenmengen sammeln, um diese Untersuchungen wesentlich zu erweitern. Um Fragen wie «Warum besteht das Universum hauptsächlich aus Materie und nur sehr wenig Antimaterie?» oder «Was ist dunkle Materie?» eines Tages beantworten zu können, ist die Entdeckung bisher unbekannter Kräfte oder neuer Teilchen unabdingbar. «Vielleicht finden wir mit den hochenergetischen Neutrinos bisher ‘unentdeckte Physik’», so Ariga.
Knowhow der Universität Bern am CERN und am Fermilab
Das CERN gilt als eines der renommiertesten Zentren für Teilchenphysik und betreibt mit dem LHC den leistungsstärksten Teilchenbeschleuniger der Welt. Die Universität Bern ist in der internationalen Grosseinrichtung nicht nur mit FASER aktiv. Sie war auch Gründungsmitglied von ATLAS, dem grössten Teilchendetektor am LHC, und ist nach wie vor massgeblich an dessen Betrieb und Weiterentwicklung beteiligt. Bei FASER ist die Forschungsgruppe von Akitaka Ariga ebenfalls bereits seit der Konzeption involviert.
In der Neutrinoforschung ist die Universität Bern darüber hinaus am Deep Underground Neutrino Experiment (DUNE) beteiligt, ein internationales Flaggschiff-Experiment am Teilchenphysik-Forschungszentrum Fermilab nahe Chicago (USA), in dem bereits mehr als 1‘000 Forschende aus über 30 Ländern aktiv sind und das den intensivsten Neutrinostrahl der Welt erzeugen wird.
Dieses Projekt wurde vom Europäischen Forschungsrat (ERC) im Rahmen des Forschungs- und Innovationsprogramms Horizon 2020 der Europäischen Union gefördert, und durch die Heising-Simons Foundation sowie durch die Simons Foundation unterstützt.
Publikationsangaben:The FASER Collaboration: First measurement of 𝜈𝑒 and 𝜈𝜇 interaction cross sections at the LHC with FASER’s emulsion detector. Physical Review Letters. |
Universität Bern leitet FASERnu-ExperimentDas FASER-Experiment besteht aus dem FASER-Detektor, der speziell auf die Suche nach neuen Elementarteilchen, wie zum Beispiel Kandidaten für die dunkle Materie (dunkle Photonen), ausgerichtet ist, und dem Neutrinodetektor FASERnu. Dieser Detektor untersucht Teilchenkollisionen, die im Zentrum des grossen ATLAS-Teilchendetekors des Large Hadron Collider (LHC) am CERN stattfinden. Am ATLAS-Detektor ist eine Forschungsgruppe von Michele Weber, Professor für experimentelle Teilchenphysik und Direktor des Laboratoriums für Hochenergiephysik (LHEP), beteiligt. Die Forschungsgruppe von Akitaka Ariga ist bereits seit der Konzeption im FASER-Experiment involviert und leitet das FASERnu-Experiment, welches zwischen 2022 und 2025 Daten sammelt. Mit dem FASERnu-Detektor können die Eigenschaften von allen drei verschiedenen Neutrino-Arten (Elektron-, Myon- und Tau-Neutrinos) mit bisher unerreichter Genauigkeit untersucht werden. Mehr Informationen: FASERnu Mehr Informationen: ATLAS |
Das Laboratorium für Hochenergiephysik (LHEP)Das Laboratorium für Hochenergiephysik (LHEP) ist eine Abteilung des Physikalischen Instituts der Universität Bern gehört zum Albert Einstein Center for Fundamental Physics (AEC). Es forscht im Gebiet der experimentellen Teilchenphysik. Mehr Informationen: https://www.lhep.unibe.ch/ |
16.07.2024