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Das Literarische der Wirklichkeit

Die österreichische Schriftstellerin Marlene Streeruwitz lehrt im Herbstsemester 2024 an der Universität Bern. Im Rahmen der «Friedrich Dürrenmatt Gastprofessur für Weltliteratur» gibt sie ein wöchentliches Seminar zur Frage, welche Rolle das Literarische in unserer Wirklichkeit spielt.

Im Herbstsemester 2024 unterrichtet Marlene Streeruwitz als Friedrich Dürrenmatt Gastprofessorin für Weltliteratur an der Universität Bern. Die österreichische Autorin wird am Walter Benjamin Kolleg der Philosophisch-historischen Fakultät eine Lehrveranstaltung geben und mit Studierenden und Doktorierenden zusammenarbeiten.

Eine der profiliertesten Feministinnen der Gegenwartsliteratur

«Marlene Streeruwitz ist eine der wichtigsten feministischen, politischen Stimmen der österreichischen Literatur», sagt Oliver Lubrich, Professor für Komparatistik an der Universität Bern und Initiator der Gastprofessur. Ihre Romane Die Schmerzmacherin (2014) und Flammenwand (2019) wurden für den Deutschen Buchpreis nominiert. Die Schriftstellerin wuchs in der Nähe von Wien als einziges Mädchen in einer Familie mit vier Brüdern auf und lernte so, wie sie sagt, in patriarchalen Strukturen zu leben. «Die Frage, wie sich männliche Machtverhältnisse auf Familien, auf Freundschaften, auf die Liebe und auf politische Beziehungen auswirken, motiviert immer wieder ihr Schreiben», erklärt Lubrich.

Pandemie, Krieg, Wahlkampf

In ihrer Literatur beschreibt Marlene Streeruwitz, wie gesellschaftliche Bedingungen die Menschen beeinflussen. Ihr Roman Tage im Mai (2023) eröffnet weibliche Perspektiven auf das Leben während des Corona-Lockdowns. Das Handbuch gegen den Krieg (2024) betrachtet militärische Auseinandersetzungen als das Gegenteil der Demokratie. Das Handbuch für die Liebe (2024) dagegen ist der Entwurf einer schöneren Welt. Mit Blick auf die österreichischen Wahlen am 29. September veröffentlicht Marlene Streeruwitz aktuell jede Woche ein Kapitel ihres Wahlkampfromans 2024 (auf www.marlenestreeruwitz.at).

Literatur als Frage

Ihr Seminar in Bern wird Marlene Streeruwitz einer grundsätzlichen Frage widmen: Was ist Literatur? Oder noch grundsätzlicher: Was ist das Literarische? Hängt die Antwort von den Texten selbst ab? Von denen, die sie verfassen? Oder von denen, die sie lesen? Zählen Filme und Graphic Novels zu literarischen Kunstwerken? Wo taucht Literatur in unserem Alltag auf? Wo ist sie beispielsweise in Bern zu finden? Welche Texte werden kulturpolitisch gefördert? Und welche Rolle spielen dabei politische Anliegen, etwa feministische oder postkoloniale? Welche Funktion haben Institutionen des Literaturbetriebs wie der Buchhandel, Festivals oder Bildungseinrichtungen? Sind Parlamente und Gerichte literarische Orte? Wie literarisch ist unsere Umwelt? Um diese Fragen zu beantworten, wird die Gastprofessorin mit ihren Studierenden Exkursionen zu lokalen Einrichtungen unternehmen – zum Beispiel ins ONO, ins Robert Walser Zentrum oder ins Schweizerische Literaturarchiv. So soll ein Austausch zwischen Akteuren des Literaturbetriebs und Studierenden angeregt werden.

Das Literarische neu denken

In das Seminar von Marlene Streeruwitz bringen die Teilnehmenden ausgewählte Texte mit, sei es einen Lieblingsroman oder einen Songtext, die mit den gängigen Mitteln der Literaturkritik untersucht werden. Dabei soll hinterfragt werden, hofft die Autorin, was wir an der Literatur für selbstverständlich halten – auch unsere eigenen Erwartungen, Leseerfahrungen und Leseweisen. «Das Literarische kann so im Seminar neu gedacht werden», sagt Lubrich. «Unsere Vorstellungen von Literatur sollen in Bern der Wirklichkeit ausgesetzt werden.»

Auftakt in der Burgerbibliothek

Die öffentliche Auftaktveranstaltung mit Marlene Streeruwitz findet am 7. Oktober um 18:30 Uhr im Hallersaal der Burgerbibliothek statt. Alle Interessierten sind herzlich eingeladen.

Friedrich Dürrenmatt Gastprofessur

Die Friedrich Dürrenmatt Gastprofessur für Weltliteratur erweitert das akademische und kulturelle Angebot in Bern und darüber hinaus. Seit dem Frühjahr 2014 unterrichtet in jedem Semester ein internationaler Gast an der Universität Bern. Die Autorinnen und Autoren geben je eine 14-wöchige Lehrveranstaltung und arbeiten wie reguläre Professorinnen und Professoren mit Studierenden und Doktorierenden zusammen. Zusätzlich zu ihren Seminaren oder Vorlesungen werden universi­täre und öffentliche Veranstaltungen in Bern sowie an anderen Orten in der Schweiz organisiert. Die Gastprofessur wurde geschaffen mit Hilfe der Stiftung Mercator Schweiz, und sie wird durch­geführt mit Unterstützung der Burgergemeinde Bern.

Bisherige Friedrich Dürrenmatt Gastprofessorinnen und Gastprofessoren

Frühjahr 2014: David Wagner (Deutschland)

Herbst 2014: Joanna Bator (Polen)

Frühjahr 2015: Louis-Philippe Dalembert (Haïti)

Herbst 2015: Wendy Law-Yone (Burma)

Frühjahr 2016: Fernando Pérez (Kuba)

Herbst 2016: Wilfried N’Sondé (Kongo)

Frühjahr 2017: Juan Gabriel Vásquez (Kolumbien)

Herbst 2017: Josefine Klougart (Dänemark)

Frühjahr 2018: Xiaolu Guo (China)

Herbst 2018: Peter Stamm (Schweiz)

Frühjahrs 2019: Nedim Gürsel (Türkei)

Herbst 2019: Lizzie Doron (Israel)

Frühjahr und Herbst 2020 (während der Corona-Pandemie): Mathias Énard (Frankreich)

Frühjahr 2021: Lukas Bärfuss (Schweiz)

Herbst 2021: Adania Shibli (Palästina)

Frühjahr 2022: Karl Schlögel (Vorlesung zur Ukraine, durchgeführt im Frühjahr 2023)

Herbst 2022: Nell Zink (USA)

Frühjahr 2023: Cristina Morales (Spanien)

Herbst 2023: Abdourahman Waberi (Dschibuti)

Frühjahr 2024: Johny Pitts (Grossbritannien)

Weitere Informationen zur Dürrenmatt Gastprofessur: http://www.wbkolleg.unibe.ch/ueber_uns/friedrich_duerrenmatt_gastprofessur

Projektseite: www.wbkolleg.unibe.ch

10.09.2024