Neue Krebstherapien in der «dunklen Materie» des menschlichen Genoms entdecken

Forschende der Universität Bern und des Inselspitals, Universitätsspital Bern, haben eine Screening-Methode entwickelt, um in der so genannten «Dunklen Materie» des Genoms neue Angriffspunkte für die Behandlung von Krebs zu entdecken. Sie wendeten ihre Methode auf den nicht-kleinzelligen Lungenkrebs (NSCLC) an, dem tödlichsten Krebs, für den dringend wirksame Therapien gesucht werden. Sie konnten zeigen, dass die Hemmung identifizierter Angriffspunkte das Krebswachstum stark verlangsamen kann, und ihre Methode ist auf andere Krebsarten übertragbar.

Krebs ist in der Schweiz die zweithäufigste Todesursache. Unter den verschiedenen Krebsarten fordert der nicht-kleinzellige Lungenkrebs (NSCLC) die meisten Todesopfer und ist nach wie vor weitgehend unheilbar. Leider können selbst neu zugelassene Therapien das Leben der Patientinnen und Patienten nur um einige Monate verlängern und nur wenige im metastasierenden Stadium überleben langzeit. Daher werden neue Behandlungen gesucht, welche den Krebs auf neue Art und Weise angreifen. Forschende der Universität Bern und des Inselspitals, Universitätsspital Ben haben im Rahmen einer kürzlich in der Fachzeitschrift Cell Genomics publizierten Studie neue Angriffspunkte für die Medikamentenentwicklung gegen diese Krebsart ermittelt.

Die dunkle Materie des Genoms

Auf der Suche nach neuen Angriffspunkten untersuchten sie eine schlecht verstandene Klasse von Genen, welche «lange nicht-kodierende RNA (Ribonukleinsäure)» (lncRNAs) genannt werden. LncRNAs existieren in grosser Anzahl in der so genannten «Dunklen Materie» oder «nicht-protein-kodierenden DNA», die den grössten Teil unseres Genoms ausmacht. Das menschliche Genom enthält etwa 20'000 «klassische» protein-kodierende Gene, aber diese Zahl wird von 100'000 lncRNAs um ein Vielfaches übertroffen. Von 99% der lncRNAs kennt man die biologische Funktion nicht.

Wie der Name «lange nicht-kodierende RNAs» bereits sagt, kodieren sie im Gegensatz zu Boten-RNAs (mRNAs) nicht für Proteinbaupläne. Wie bei den mRNAs sind die Bauanleitungen für lncRNAs in der DNA der Zelle enthalten.

Neue Methode entdeckt mögliche Angrifssziele

Um die Rolle von lncRNAs bei NSCLC zu untersuchen, analysierten die Forschenden zunächst öffentlich verfügbare Datensätze, um festzustellen, welche lncRNAs bei NSCLC vorkommen. Diese Analyse führte zu einer Liste von über 800 lncRNAs, deren Bedeutung für NSCLC-Zellen die Forschenden untersuchen wollten. Für diese Untersuchung entwickelten sie ein Screening-System, das die Produktion der ausgewählten lncRNAs verhindert, indem es einen Teil ihrer Bauanleitung in der DNA löscht.

Sie wendeten ihr Screening-System auf zwei von Patienten stammende NSCLC-Zelllinien an und untersuchten, wie sich die Hemmung der ausgewählten lncRNAs auf so genannte «Merkmale» von Krebszellen auswirkte. Solche Merkmale sind zelluläre Verhaltensweisen, die zum Fortschreiten der Krankheit beitragen: Teilung, Metastasenbildung und Therapieresistenz. «Der Vorteil der Untersuchung von drei verschiedenen Krebsmerkmalen besteht darin, dass wir einen umfassenden Überblick haben, aber auch über beträchtliche Datenmengen aus verschiedenen Experimenten verfügen, aus denen wir eine einzige Liste von langen nicht-kodierenden RNAs ableiten mussten, die für den nicht-kleinzelligen Lungenkrebs wichtig sind», sagt Rory Johnson, Assistenzprofessor an der Universität Bern, der das vom NCCR RNA & Disease finanzierte Projekt leitete. Die Analyse ergab schliesslich eine Liste von 80 lncRNA-Kandidaten von den über 800 untersuchten, die mit hoher Wahrscheinlichkeit für NSCLC von Bedeutung sind. Aus diesen 80 wählten die Forschenden mehrere lncRNAs für Folgeexperimente aus.

Eine lange RNA mit einer kurzen zerstören

Bei diesen Folgeexperimenten wurde ein Ansatz genutzt, welcher nicht auf der DNA-Ebene ansetzt, sondern auf die lncRNAs nach ihrer Produktion abzielt. Zu diesem Zweck verwendeten die Forschenden kleine, chemisch synthetisierte RNAs, sogenannte Antisense-Oligonukleotide (ASOs). Diese binden sich an die lncRNAs, auf die sie abzielen und führen zu deren Abbau. Mehrere ASOs sind bereits für die Behandlung menschlicher Krankheiten zugelassen, allerdings noch keine für Krebs.

Diese Folgeexperimente zeigten, dass die Zerstörung der meisten der ausgewählten lncRNAs durch ASOs die Krebszellteilung in der Zellkultur verhindert. Wichtig ist, dass die diese Behandlung nur geringe oder gar keine Auswirkungen auf nicht krebsartige Lungenzellen hatte, die durch die Krebsbehandlung nicht geschädigt werden sollten. In einem dreidimensionalen Modell des Krebses, das dem Tumor ähnlicher ist als das Zellkulturmodell, reduzierte die Hemmung einer einzigen lncRNA mit einem ASO das Tumorwachstum um mehr als die Hälfte. «Wir waren positiv überrascht, wie gut die Antisense-Oligonukleotide das Tumorwachstum in verschiedenen Modellen eindämmen konnten», sagt Taisia Polidori, Ko-Erstautorin, die im Rahmen ihrer Doktorarbeit an der Universität Bern an diesem Projekt gearbeitet hat.

Therapieentwicklung und Anwendung auf andere Krebsarten

Im Hinblick auf die zukünftige Behandlung von Patientinnen und Patienten setzen die Forschenden ihre Forschungsbemühungen in verschiedenen vorklinischen Krebsmodellen fort und prüfen eine Zusammenarbeit mit bestehenden Unternehmen oder die Gründung eines eigenen Startups. Roberta Esposito, Ko-Erstautorin und Postdoc an der Universität Bern, sagt zur Anwendung bei anderen Krebsarten: «Wie ein Teleskop, das relativ einfach neu positioniert werden kann, um einen anderen Teil des Weltraums zu untersuchen, sollte sich unser Ansatz leicht anpassen lassen, um neue, potenzielle Behandlungsarten für andere Krebstypen zu entdecken.»  Dr. Esposito wird das «Teleskop» nun einsetzen, um neue Angriffspunkte für Darmkrebs zu identifizieren. Zu diesem Zweck hat sie von der Medizinischen Fakultät der Universität Bern eine Finanzierung erhalten, die von der Béactrice Ederer-Weber-Stiftung gestiftet wurde.

Publikation:

Roberta Esposito,Taisia Polidori, Dominik F. Meise, Carlos Pulido-Quetglas,Panagiotis Chouvardas, Stefan Forster, Paulina Schaerer, Andrea Kobel, Juliette Schlatter, Erik Kerkhof, Michaela Roemmele, Emily S. Rice, Lina Zhu, Andre´ s Lanzo´ s, Hugo A. Guillen-Ramirez, Giulia Basile, Irene Carrozzo, Adrienne Vancura, Sebastian Ullrich, Alvaro Andrades, Dylan Harvey, Pedro P. Medina, Patrick C. Ma Simon Haefliger, Xin Wang, Ivan Martinez, Adrian F. Ochsenbein, Carsten Riether, and Rory Johnson: Multi-hallmark long noncoding RNA maps reveal non-small cell lung cancer vulnerabilities, Cell Genomics, 22 August 2022.

DOI: 10.1016/j.xgen.2022.100171

NCCR RNA & Disease – Die Rolle von RNA in Krankheitsmechanismen

Der Nationale Forschungsschwerpunkt (NCCR) «RNA & Disease – Die Rolle von RNA in Krankheitsmechanismen» widmet sich der Untersuchung einer sehr wichtigen Klasse von Molekülen. Die RNA (Ribonukleinsäure) ist der Drehpunkt vieler Lebensvorgänge und funktional weit vielfältiger als ursprünglich angenommen. Sie definiert beispielsweise, wann und in welchen Zellen welche Gene aktiv oder inaktiv sind. Läuft bei dieser genetischen Regulation nicht alles rund, entstehen Krankheiten – etwa Herzerkrankungen, Krebs, Hirn- und Stoffwechselkrankheiten. Der NCCR vereint Schweizer Forschungsgruppen, die sich mit verschiedenen Aspekten der RNABiologie befassen. Indem der NCCR aufdeckt, welche regulatorischen Mechanismen während einer Erkrankung aus dem Ruder laufen, zeigt er auch neue therapeutische Angriffsziele auf. Die Universität Bern ist Leading house des NCCR, die ETH Zürich ist co-leading. Nationale Forschungsschwerpunkte sind ein Forschungsinstrument des Schweizerischen Nationalfonds SNF.

Website NCCR RNA & Disease

Die Website «Molecool.ch», die vom NCCR RNA & Disease der Universität Bern und der ETH Zürich, für Leute welche mehr über RNA erfahren wollen, entwickelt wurde, bietet einen Überblick über die vielfältigen Funktionen des RNA-Moleküls und deren Bedeutung für die Spitzenforschung und Medikamentenentwicklung.

Website Molecool.ch

 

 

06.10.2022