Pflanzen-Sprosse und Wurzeln reagieren unterschiedlich auf Klimawandel

Eine neue Studie von einer internationalen Forschungsgruppe, an der auch Madhav P. Thakur von der Universität Bern beteiligt war, zeigt, dass sich der Klimawandel unterschiedlich auf die ober- und unterirdischen Teile von Pflanzen auswirkt. Diese Erkenntnisse sind wichtig, um die Auswirkungen des Klimawandels auf die Biodiversität besser zu verstehen.

Die meisten Organismen folgen über das Jahr hinweg einem Zeitplan, der beispielweise bestimmt, wann sie sich fortpflanzen, wann Winterschlaf gehalten wird und vieles mehr. Der periodische Ablauf wird als Phänologie bezeichnet und ist entscheidend für das Überleben der Organismen sowie ihren Beitrag zu verschiedenen Ökosystemfunktionen. Eine der am häufigsten beobachteten Reaktionen von Organismen auf den Klimawandel sind Veränderungen in ihrer Phänologie. Studien haben bereits gezeigt, dass sich die Phänologie vieler Pflanzen aufgrund des Klimawandels verschiebt: Beispielsweise blühen viele Pflanzen nun früher in ihrer Vegetationsperiode. Bisher war jedoch wenig darüber bekannt, ob sich die oberirdischen phänologischen Veränderungen der Pflanzen (an den Sprossen) von den unterirdischen phänologischen Veränderungen (an den Wurzeln) unterscheiden.

Eine kürzlich in Nature Climate Change veröffentlichte Studie von einer internationalen Forschungsgruppe, darunter Professor Madhav P. Thakur vom Institut für Ökologie und Evolution der Universität Bern, zeigt nun, dass es in der Tat grosse Unterschiede gibt in der Art und Weise, wie sich die oberirdische Phänologie im Vergleich zur unterirdischen Phänologie der Pflanzen aufgrund des Klimawandels verändert. Die Studie ist eine der ersten Synthesen von weltweit experimentell erhobenen Daten zur Auswirkung der Erwärmung auf die Phänologie der Sprosse und Wurzeln. 

Eine gängige Annahme wird in Frage gestellt

Ein Grossteil der phänologischen Forschung untersucht lediglich die oberirdische Phänologie der Pflanzen (z.B. die Blütezeit, die Länge der Vegetationsperiode usw.). In der Forschung wurde häufig angenommen, dass die oberirdischen phänologischen Veränderungen der Pflanzen mit den Veränderungen unter der Erde übereinstimmen. Diese Annahme wird auch häufig in Modellen verwendet, welche zukünftige Ökosystemmerkmale wie zum Beispiel den Kohlestoffkreislauf vorhersagen.

Ohne die Phänologie von Sprossen und Wurzeln vollständig zu kennen, ist es jedoch sehr schwierig abzuschätzen, wie der Klimawandel die Pflanzengemeinschaften und damit die Ökosysteme in Zukunft verändern wird. Mit der neuen Studie wollten Dr. Huiying Liu und Professor Xuhui Zhou von der East China Normal University und Prof. Madhav P. Thakur von der Universität Bern deshalb diese Annahme in Frage stellen, inwiefern sich der Klimawandel gleichermassen auf die oberirdische und die unterirdischen Pflanzenphänologie auswirkt.

Phänologische Ungleichgewichte sind häufig

Um zu untersuchen, ob es tatsächlich eine Diskrepanz gibt, trugen die Autoren Daten aus 88 bereits veröffentlichten Studien zusammen, in denen die Phänologie von Pflanzen ober- und unterirdisch untersucht wurde. «Wir waren bei der Auswertung überrascht, wie häufig wir unterschiedliche Reaktionen der ober- und unterirdischen Teile der Pflanzen auf die Erwärmung festgestellt haben», sagt Dr. Huiying Liu, Erstautorin der Studie. 

Gehölzpflanzen wie Bäume reagierten unterirdisch stärker als oberirdisch, während krautige Pflanzen wie Gräser und Kräuter oberirdisch stärker reagierten als unterirdisch. «Diese Ergebnisse werden die ökologische Forschung zum Klimawandel erheblich voranbringen, weil sie die Bedeutung der Phänologie der Pflanzenwurzeln verdeutlichen», sagt Madhav P. Thakur von der Universität Bern, Letztautor der Studie.

Wenn sich aufgrund der Erwärmung die Wurzelphänologie verschiebt – oder eben nicht – hat dies auch einen Einfluss auf die vielen weiteren Organismen im Boden, die von der Wurzel als Ressource abhängig sind. «Wenn oberirdische Organismen wie Insekten die pflanzlichen Ressourcen anders nutzen als die unterirdisch lebenden, ist davon auszugehen, dass ein Ungleichgewicht in den Ökosystemen entsteht. Über die effektiven Auswirkungen eines solchen Ungleichgewichts, das durch phänologische Abweichungen ausgelöst wird, wissen wir aber noch sehr wenig», betont Thakur. 

«Dramatische Veränderungen in den Ökosystemen»

Madhav P. Thakur war überrascht von der Häufigkeit und Regelmässigkeit der phänologischen Ungleichgewichte, die in der Studie offensichtlich wurden: «Die Pflanzenphänologie ist nicht nur für Pflanzen wichtig, sondern auch für Pflanzenfresser und Mikroorganismen, da diese von Pflanzen abhängig sind. Wenn sich der Klimawandel unterschiedlich auf die ober- und unterirdischen Nahrungsketten auswirkt, wird dies dramatische Veränderungen in den Ökosystemen zur Folge haben», befürchtet Thakur. 

Die Wechselwirkungen zwischen Erdreich und Erdoberfläche sind für die Biodiversität und die Funktionsfähigkeit der Ökosysteme von entscheidender Bedeutung. Es bedarf gemäss den Forschenden deshalb weiterer experimenteller Forschung, um zu verstehen, wie sich solche phänologischen Ungleichgewichte bei Pflanzen auf Mikroorganismen und Tiere auswirken. Angesichts der gravierenden Auswirkungen des Klimawandels wie Hitzewellen, längere Dürreperioden oder starke Niederschläge, seien diese Forschungsergebnisse jedoch beunruhigend im Hinblick auf die Zukunft der Ökosysteme.

Publikationsdetails:

Liu, H, Wang, H, Li, N, Shao, J, Zhou, X, van Groenigen, KJ, Thakur, MP (2021) Phenological mismatches between above- and belowground plant responses to climate warming. Nature Climate Change. DOI: 10.1038/s41558-021-01244-x

Das Institut für Ökologie und Evolution 

Das Institut für Ökologie und Evolution an der Universität Bern widmet sich der Forschung und Lehre in allen Aspekten von Ökologie und Evolution und versucht eine wissenschaftliche Basis für das Verständnis und die Erhaltung der lebenden Umwelt zu bieten. Es untersucht die Mechanismen, durch die Organismen auf ihre Umwelt reagieren und mit ihr interagieren, einschliesslich phänotypischer Reaktionen auf individueller Ebene, Veränderungen in Häufigkeiten von Genen und Allelen auf Populationsebene wie auch Veränderungen in der Artenzusammensetzung von Gemeinschaften bis hin zur Funktionsweise von ganzen Ökosystemen.

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20.12.2021