Ein mathematisches Modell zur Vorhersage von Stressreaktionen
Ein internationales Team unter der Leitung von Barbara Taborsky vom Institut für Ökologie und Evolution der Universität Bern hat erstmals ein mathematisches Modell entwickelt, das unter Berücksichtigung von Umweltfaktoren vorhersagt, wie Lebewesen auf Stress reagieren.
Alle Organismen, von Einzellern über Pflanzen zu Tieren, zeigen unmittelbare Reaktionen, wenn sie sogenannten Umweltstressoren ausgesetzt sind (beispielsweise der Attacke eines Räubers, dem plötzlichen Einsetzen eines Unwetters etc.). Von uns Menschen kennen wir solche Stressreaktionen zum Beispiel in Situationen wie Prüfungsstress, oder nach einer gefährlichen Situation im Autoverkehr. Stressreaktionen helfen, auf Bedrohungen zu reagieren, doch Stress verbraucht auch Energie, und chronischer Stress kann schädlich sein. Die physiologische Reaktion auf einen Stressor funktioniert bei allen Organismen nach dem gleichen Schema: Von einem tiefen Level (Basallevel) steigt das Stressmolekül (meist ein Stresshormon) nach einem Stressreiz innert Minuten stark an, und sinkt dann langsam über den Verlauf von Stunden wieder auf den Basallevel ab. Die Stressreaktionen unterscheiden sich jedoch stark zwischen verschiedenen Arten und sogar zwischen Individuen derselben Art was das Basallevel, den Peak und die Abbaugeschwindigkeit der Stresshormone betrifft.
«Bei einem Workshop in der Schweiz, bei dem die Ko-Autorinnen und -Autoren der aktuellen Studie als Redner eingeladen waren, fanden wir gemeinsam heraus, dass es überraschenderweise keine evolutiven Modelle gibt, die den Einfluss von Umweltfaktoren auf die Stressantwort von Lebewesen vorhersagen», erklärt Barbara Taborsky, Erstautorin der Studie in Trends in Ecology & Evolution und Professorin am Institut für Ökologie und Evolution der Universität Bern. Deshalb entwickelten Taborsky und ihre Kolleginnen und Kollegen aus der Schweiz, Finnland, Grossbritannien und Schweden ein mathematisches Modell, das unter Berücksichtigung der Umweltfaktoren die «optimale Stressreaktion» vorhersagt – also z.B. wie stark eine Reaktion sein und wie schnell sie abklingen sollte.
Das «optimale» Stressniveau prognostizieren
Das Modell der Forschungsgruppe kombiniert bestehende Forschung zur Stressphysiologie bei vielen Lebewesen mit der Analyse optimaler Stressreaktionen, die Kosten und Nutzen von Stress ausgleichen. «Ein wichtiger Punkt dabei ist die Bedeutung der Vorhersehbarkeit von Bedrohungen für einen Organismus», erklärt Barbara Taborsky. Beispielweise legt das neue Modell nahe, dass ein Organismus, der in einer gefährlichen Umgebung lebt, einen hohen Basallevel an Stresshormonen haben sollte. Damit ist der Organismus jederzeit bereit, auf eine Gefahr zu reagieren, trägt aber die erhöhten Kosten (wie zum Beispiel den Energieaufwand) eines höheren Basallevels. Hingegen profitiert ein Lebewesen in einer sichereren Umgebung davon, wenn es, ausgehend von einem tiefen Basallevel, in der Lage ist, das Stressniveau schnell erhöhen und reduzieren zu können. «Unser Ansatz zeigt, dass die Vorhersagbarkeit der Umwelt und die physiologischen Grenzen eines Organismus Schlüsselfaktoren bei der Evolution von Stressreaktionen sind», sagt Taborsky.
Prüfbare Vorhersagen für weitere empirische Forschung
Die Studie ist damit ein Schritt auf dem Weg zum Verständnis, warum Stressreaktionen so variabel sind. «Es ist weitere Forschung notwendig, um das wissenschaftliche Verständnis der Entwicklung dieses physiologischen Kernsystems voranzutreiben», sagt Barbara Taborsky. «Hierfür generiert unser Modell prüfbare Vorhersagen über die Variation der Stressreaktion zwischen Arten und Kontexten.» Das Verständnis der Entwicklung von Stressreaktionen ist wichtig, um vorherzusagen, wie Organismen auf Umweltveränderungen reagieren. «Wir haben mit unserem Modell einen ersten Schritt hin zu einer mathematischen Theorie der Evolution von Stressreaktionen gemacht. Wir hoffen, damit ein neues Feld in der Stressbiologie und deren Verständnis vor einem evolutiven Hintergrund zu begründen», so Taborsky.
Die Studie wurde von der Universität Bern, der University of Bristol, der University of Exeter, der Stockholm University, der University of Turku und der École polytechnique fédérale de Lausanne (EPFL) durchgeführt und vom Schweizerischen Nationalfonds (SNF) finanziert.
Publikationsdetails:Barbara Taborsky, Sinead English, Tim W. Fawcett, Bram Kuijper, Olof Leimar, John M. McNamara, Suvi Ruuskanen, and Carmen Sandi: Towards an Evolutionary Theory of Stress Responses. Trends in Ecology & Evolution, Published: October 05, 2020. https://doi.org/10.1016/j.tree.2020.09.003 |
03.12.2020