«Freiluft»-Kälber sind gesünder und brauchen weniger Antibiotika
Können sich Kälber mehr an der freien Luft aufhalten, erkranken sie seltener und brauchen weniger Antibiotika. Dies zeigt eine Studie der Vetsuisse-Fakultät der Universität Bern, in der ein neues Managementkonzept für die Kälbermast entwickelt wurde. Die Studie wurde in Zusammenarbeit mit IP-SUISSE und dem Migros-Genossenschafts-Bund erstellt.
In der Kälbermast werden junge Tiere häufig aus mehreren Geburtsbetrieben zu grossen Gruppen zusammengeführt. So übertragen sie untereinander Keime, die zu vielen Erkrankungen führen. Als Folge davon werden grosse Mengen an Antibiotika eingesetzt.
Um diese Problematik zu umgehen, hat die Wiederkäuerklinik der Vetsuisse-Fakultät an der Universität Bern in Zusammenarbeit mit IP-SUISSE und dem Migros-Genossenschafts-Bund ein neues umfassendes Managementkonzept für Kälber entwickelt, das sogenannte «Freiluftkalb-Konzept»: Von den an der Studie beteiligten Betrieben wurden Kälber von benachbarten Betrieben zugekauft und direkt ohne Kontakt mit anderen Kälbern in den Mastbetrieb transportiert. In den Versuchsbetrieben lebten sowohl zugekaufte wie auf dem Betrieb geborene Tiere zuerst im Freien in Einzeliglus mit Sichtkontakt zu Artgenossen – im Sinne einer Quarantäne – und wurden geimpft. Später kamen sie in kleine Gruppen von maximal 10 Tieren, ebenfalls im Freien, in ein Gruppeniglu mit einem überdachten, eingestreuten Auslauf. So konnten sie sich im geschützten Auslauf an der freien Luft aufhalten, sie waren weniger Erregern und Schadgasen ausgesetzt und erkrankten seltener. Dieses Konzept wurde in 19 Kälberherden umgesetzt und mit 19 traditionell gehaltenen Herden in der gleichen Region verglichen. Die Vergleichsbetriebe folgten den IP-SUISSE Richtlinien und verfügten unter anderem über Ställe mit Zugang zu einem unbedeckten Auslauf.
Im Rahmen der Studie wurden nicht nur Indikatoren für die Tiergesundheit, das Tierwohl und die Wirtschaftlichkeit erfasst, sondern auch die Resistenzlage gegenüber Antibiotika untersucht. Die ersten Ergebnisse der Studie liegen nun vor, die Resultate zur Wirtschaftlichkeit und Entwicklung der Resistenzlage werden noch ausgewertet und zu einem späteren Zeitpunkt kommuniziert.
Tiergesundheit und Tierwohl signifikant verbessert
Dank dem «Freiluftkalb-Konzept» konnte der Antibiotikaeinsatz in den Freiluftbetrieben im Vergleich zu den Kontrollbetrieben auf einen Fünftel reduziert werden, und die Sterblichkeit wurde um das Zweifache reduziert. «Unser Ziel war es, ein Managementkonzept für die Kälbermast zu entwickeln, das den Antibiotikaeinsatz um die Hälfte reduziert, ohne die Tiergesundheit zu gefährden», sagt Prof. Mireille Meylan, Leiterin der Studie. Das bedeutet, dass die Senkung des Antibiotikaeinsatzes nicht auf Kosten des einzelnen Tieres gehen darf. Entsprechend wurden kranken Tieren, die eine Behandlung benötigten, Antibiotika verabreicht.
Der Hauptgrund für antibiotische Behandlungen von Mastkälbern sind Lungenentzündungen. «Unsere Ergebnisse zeigen, dass Freiluftkälber während der Mast weniger Symptome für Lungenentzündungen aufwiesen», sagt Jens Becker, Ko-Autor. So war die Anzahl von hustenden Kälbern und Kälbern mit Nasenausfluss deutlich reduziert. Auch nach der Schlachtung fanden sich in den entnommenen Lungen der Freiluftkälber weniger Anzeichen von Lungenentzündungen als bei Kälbern aus den Vergleichsbetrieben.
Für Mastbetriebe einfach umsetzbar und wirtschaftlich
Für die Forschenden war auch wichtig, dass das Konzept in den Mastbetrieben einfach umgesetzt werden kann: «Es soll für die Tierhalterinnen und Tierhalter praktisch sowie wirtschaftlich sein», sagt Meylan. So hat zum Beispiel die Reduktion der Sterblichkeit der Tiere um das Zweifache neben einer wichtigen ethischen Komponente auch eine grosse wirtschaftliche Bedeutung. Zudem war die tägliche Gewichtszunahme in beiden Betriebsgruppen vergleichbar, das heisst die im Freien gehaltenen Kälber wuchsen nicht langsamer als in traditioneller Haltung.
Schweizweit von Bedeutung
«Bisher gibt es keine für die Schweiz angepassten Managementsysteme für die Kälbermast, die nachweislich den Antibiotikaverbrauch wegen verbesserter Tiergesundheit reduzieren», sagt Becker. Ein Managementkonzept, das sich hinsichtlich Verbesserung der Tiergesundheit, Reduktion des Antibiotikaverbrauchs und Erhalt der Wirtschaftlichkeit bewährt, könne laut den Forschenden die Kälbermast in der Schweiz grundlegend verändern. «Eine solche Veränderung würde einen äusserst relevanten Beitrag zur Bekämpfung der Problematik von antibiotikaresistenten Bakterien leisten und generell zu einer tierfreundlicheren Haltung führen», sagt Meylan.
IP-SUISSE und Migros sind überzeugt
«Die Studie hat hervorragende Ergebnisse geliefert», sagt Niklaus Hofer, stellvertretender Geschäftsführer von IP-Suisse. «IP-SUISSE ist daher überzeugt, dass das System Freiluftkalb die Kälbermast der Zukunft sein wird». Entsprechend wolle sich IP-SUISSE für das neue System Freiluftkalb einsetzen. Weiter fügt Hofer an: «Da es sich aber nicht nur um eine neuartige Stalleinrichtung handelt, sondern um ein ganzes System, braucht es für die Umsetzung mehrere Schritte». Dazu gehörten unter anderem die Einführung eines Punktesystems zur Bewertung von gesünderen Kälbern, und eine entsprechende Entschädigung durch den Bund und den Markt für diesen Mehrwert.
Für die Migros, welche die Studie mit finanziellen Mitteln unterstützt, sind die Resultate sehr erfreulich. «Die Migros bekennt sich mit ihrem breiten Engagement klar zum Tierwohl und strebt hohe Ziele an. Die Resultate zeigen nun, dass mit entsprechendem Management und Haltungssystemen die Tiergesundheit massiv verbessert werden kann. Das möchten wir auf jeden Fall weiterverfolgen», sagt Andreas Schmidli, Fachspezialist Nachhaltigkeit Tierwohl beim Migros-Genossenschafts-Bund. Die Erkenntnisse aus der Wissenschaft sollen nun genutzt und in die Praxis implementiert werden.
Die «Freiluftkalb-Studie»In der «Freiluftalb-Studie» wurden über 1'900 Kälber untersucht. 19 Betriebe erhielten während eines Jahres ein Mastsystem an der freien Luft mit Einzel- und Gruppeniglus. Diese wurden mit 19 IP-SUISSE-Betrieben mit herkömmlichen Mastsystemen mit Stallhaltung und unüberdachtem Auslauf verglichen. Die Studie umfasste monatliche Besuche auf den Betrieben, um die Gesundheit der Tiere zu ermitteln, Untersuchungen der Lungen nach der Schlachtung sowie Befragungen der Tierhalterinnen und Tierhalter zu wirtschaftlichen Aspekten. Im Rahmen des Nationalen Forschungsprogramms 72 des Schweizerischen Nationalfonds für die Forschung wurden zudem systematisch Proben zur Bestimmung der Resistenzlage gegenüber Antibiotika gesammelt und untersucht. |
Quelle: IP-SUISSE
12.04.2019